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Statements und Resolutionen

Mai 2010

Beitrag für das Magazin „Partnerschaftlich“ des GVS (Gesamtverband für Suchtkrankenhilfe)

Im Juni 2009 veröffentlichte die Baden-Württembergische Arbeitsgemeinschaft der Selbsthilfe- und Abstinenzverbände (BWAG) ihre Resolution als Statement der ehrenamtlichen Sucht-Selbsthilfe, wie sie die Entwicklungen in der baden-württembergischen Suchthilfe erlebt und beurteilt. Der Versand erfolgte an die Fachdienste, Dachverbände der freien Wohlfahrtspflege, Kostenträger sowie an die Landespolitik. Die Reaktionen waren vielfältig und reichten von vorbehaltloser Zustimmung über differenzierte Stellungnahmen bis hin zu vehementer Ablehnung.

Aufgrund des erhofften und offensichtlichen Gesprächsbedarfs lud die BWAG zum
1. Dezember 2009 zum Gespräch an den runden Tisch in die Räume der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg nach Stuttgart ein. Etwa 40 Personen aus den Leitungsetagen der baden-württembergischen Suchthilfe folgten der Einladung und brachten ihre Sicht der Dinge ein ... doch wie war es überhaupt zu der Resolution gekommen?

Ein Blick hinter die Kulissen – zur Entstehung der Resolution

BWAG-Sitzung Oktober 2008: Unter dem Tagesordnungspunkt „Sozialpolitische Entwicklungen“ bereitet die Beobachtung, dass die sozialtherapeutische und psychosoziale Behandlung und Begleitung betroffener Menschen rückläufig ist zugunsten einer zunehmenden Medizinalisierung, zunehmend Sorge. Die eigentliche Not der Suchterkrankung sehen die selbst betroffenen Delegierten im Rückblick auf ihre eigenen Rehaprozesse jedoch erst nachrangig im medizinischen Bereich, sondern vielmehr in der Erkrankung ihrer Beziehungen zum Mitmenschen, zum Partner und vorwiegend zu sich selbst. Weiterhin erlebten sie die Arbeitstherapie als einen zentralen Baustein ihrer Rehabilitation in Familie und Beruf, denn hier erwarben sie ganz neue Fähigkeiten zur Alltagsbewältigung ... doch genau dieser zentrale therapeutische Baustein scheint zunehmend weggespart zu werden.

Gleichzeitig sehen die Delegierten kritisch und teilweise frustriert auf die Kooperation ihrer Selbsthilfegruppen mit vielen Psychosozialen Beratungs- und Behandlungsstellen, da über die Jahre zwar viele Gruppenteilnehmer in therapeutische Behandlung vermittelt wurden, diese jedoch nach Abschluss ihrer Rehamaßnahme nicht mehr den Weg zurück in die Gruppen fanden. Die vermuteten Hintergründe liegen einerseits in der Bindung der Patienten in therapeutisch angeleiteten Nachsorgegruppen – welche wiederum einen wichtigen Anteil der Finanzierung der Beratungsstellen ausmachen – und andererseits in einer gewissen Gruppenmüdigkeit der Patienten, denn das entscheidende Zeitfenster, in dem sie zur Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe motivierbar sind und erste Schritte in diese Richtung tun können, verstreicht oftmals ungenutzt.

In dem Bewusstsein, dass die Selbsthilfe diese Entwicklungen kaum wird aufhalten können, gewinnt die Überlegung Raum, sich künftig mehr auf Hausarztpraxen hin zu orientieren, um die dort präsenten Suchtkranken und Angehörigen zu erreichen ... doch soll sie damit die über viele Jahre bewährte, wenn auch nicht mehr durchgängig intakte Kooperation mit den Beratungsstellen aufgeben und sich finanziellen Kürzungen und Kämpfen um Marktanteile unter Beratungsstellen, Fachkliniken und Ärzteschaft kommentarlos beugen? Und all dies letztlich auf Kosten der Menschen, die dringend der Hilfe bedürfen? Dies ist keine gute Lösung. Also: Wer könnte den Mund aufmachen und Kurskorrekturen zum Wohl der betroffenen Menschen einfordern, wenn nicht die Selbsthilfe?! Wenn nicht gerade die Menschen, die ihre eigene Rehabilitation eben diesem Suchthilfesystem verdanken und in das sie sich seit Jahren ehrenamtlich einbringen, um die selbst erfahrene Hilfe weiterzugeben?!

Die folgenden Sitzungen zeigen, dass die Formulierung einer Resolution eine Herausforderung für die Selbsthilfe darstellt, denn es geht darum ...

  • teilweise noch latent vorhandene Patientenrollen gegenüber Hauptamtlichen und Therapeuten zu verlassen;
  • sich mental von wirtschaftlichen Faktoren und scheinbaren Zwängen, welche vorwiegend von hauptamtlicher Seite gesteuert werden, frei zu schwimmen;
  • eine eigene Position gegenüber den Fachdiensten zu entwickeln;
  • den Mut zu haben, sich ohne statistisches Fundament und ausgefeiltes Fachvokabular zu Wort zu melden und sich auf persönliches Erleben, Intuition und langjährige Erfahrung zu stützen;
  • eine Stellungnahme zu riskieren, deren Treffsicherheit dort an ihre Grenzen stößt, wo die Selbsthilfe den fachlichen Details, Begriffen und Zusammenhängen nicht immer gerecht zu werden vermag, weil es nicht ihre Welt ist;
  • sich gegen Eingriffsversuche Hauptamtlicher, welche die Veröffentlichung der Resolution verhindern wollen, beharrlich zur Wehr zu setzen;
  • bereit zu sein, die konstruktiven Anteile kritischer Rückmeldungen heraus zu filtern und einzuarbeiten;
  • eine langwierige und teilweise kontroverse interne Diskussion zu führen, um sich dann mit einer Stimme zu Wort melden und sich den anschließenden Diskussionen stellen zu können.

Wie es weitergeht

Im Herbst 2009 wurde die Resolution in verschiedenen Gremien auf Bundesebene diskutiert und nach dem runden Tisch am 1. Dezember 2009 folgten weitere Gespräche mit der Landesstelle für Suchtfragen in Baden-Württemberg, dem Fachverband Sucht im Diakonischen Werk Württemberg und der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg zur Frage, wie die Sicht der Selbsthilfe zukünftig stärkere Berücksichtigung finden kann.
Angesichts dieser Entwicklungen waren sich die Delegierten der BWAG schnell einig, dass ihre Beurteilung des Suchthilfesystems ohne die schriftliche Form der Resolution niemals solche Beachtung gefunden hätte.

Anliegen der BWAG ist es, das ehrenamtliche Engagement in den Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeverbänden transparent zu machen sowie ihren Beitrag zu einer gelingenden Kooperation mit allen Beteiligten einzubringen. Zu diesem Zweck wird sie weitere Gespräche mit interessierten Personen und Institutionen führen und sich im Sinne einer Betroffenenvertretung immer wieder zu Wort melden.

In den folgenden Thesen fasst sie zusammen, wie sie die derzeitigen Herausforderungen für die „Mitspieler“ in der Suchthilfe sieht:

These 1: Eine gelingende Kooperation ist für all diejenigen unverzichtbar, die sich einer nachhaltigen Hilfe für suchtkranke und angehörige Menschen im Sinne einer verbindlichen gemeinsamen Versorgungsverantwortung verpflichtet sehen.
Sie wird jedoch erst möglich, wenn ALLE Mitspieler sich in gegenseitiger Wertschätzung begegnen und sich unter dem Ziel der Rehabilitation suchtkranker Menschen und ihrer Angehörigen einordnen.

These 2: Die Qualität der Selbsthilfe liegt in der Verantwortung ALLER Mitspieler im
Suchthilfesystem. Die Selbsthilfeverbände sind für die innere Ausgestaltung zuständig wie zum Beispiel kontinuierliche Angebote und Förderung suchtmittelfreier Sozialräume, kontinuierliche Weiterbildung ihrer Mitarbeiter, die Betroffenenvertretung zum Beispiel in kommunalen Suchthilfenetzwerken sowie durch mutiges Bekenntnis zu ihrer Erkrankung.
Die Fachdienste sind für Behandlung, Motivierung und Vermittlung der Patienten zuständig, Kostenträger und Politik für die nötigen Rahmenbedingungen.
Die Grundlage früherer Kooperationen waren persönliche Beziehungen zwischen Betroffenen (die zu Mitarbeitenden der Selbsthilfe wurden) und Therapeuten. Man kannte und vertraute sich. Dieser persönliche Bezug ist heute nicht mehr selbstverständlich gegeben. Heutige Kooperation braucht die konzeptionelle Vorgabe ungeachtet eines persönlichen Bekanntheitsgrades ... und dennoch auch persönliche Kontakte und positive Kooperationserfahrungen über Tagesordnungen und Sitzungen hinaus.

These 3: Um Missverständnisse und Rivalitäten zwischen hauptamtlichen Diensten und ehrenamtlicher Selbsthilfe zu entdecken und zu entschärfen, müssen sich beide Seiten ihrer wesentlichen Unterschiede bewusst sein und diese gegenseitig respektieren. Hierbei geht es zum Beispiel um ...

  • den persönlichen Zugang zum Thema Sucht sowie die Motivation zum Engagement;
  • die Auftraggeber, Aufgabenstellung und Ziele;
  • die Stärken und Begrenzungen, sowie um
  • die jeweiligen Rahmenbedingungen.

Nur in der gegenseitigen Achtung und Wertschätzung sind Nachhaltigkeit, Effizienz und Wirtschaftlichkeit aller Kooperationsbemühungen gewährleistet.

These 4: Die politischen und konzeptionellen Veränderungen sowie die wirtschaftlichen Notwendigkeiten der vergangenen Jahre haben Selbstverständnis und Arbeitsweise sowohl der hauptamtlichen Dienste wie auch der Selbsthilfe gleichermaßen geprägt. Eine Veränderung der Angebote und Arbeitsweise der Selbsthilfe jedoch wächst vorrangig aus ihrer Basisarbeit heraus, wenn Gruppenteilnehmer und Mitarbeitende ihren Bedarf anmelden.

These 5: Das sicherste Einsparpotential an Zeit, Energie und Finanzen liegt in der frühzeitigen Vermittlung suchtkranker und angehöriger Menschen in die Selbsthilfe. Wer nicht nur NACH, sondern bereits VOR einer therapeutischen Maßnahme den Austausch betroffener Menschen in einer Selbsthilfegruppe erlebt und auf diese Weise den Spiegel vorgehalten bekommt, hat gute Chancen, seinen „inneren Einstieg“ in eine Rehamaßnahme schneller zu schaffen und die Angebote effektiver nutzen zu können

Die BWAG hofft

dass alle weiteren Entwicklungen des Suchthilfesystems in Baden-Württemberg wie auch bundesweit ebenso wie alle Gespräche zwischen Fachdiensten, Leistungsträgern, Politik und Selbsthilfe in gegenseitiger Wertschätzung und mit Interesse am jeweils anderen Auftrag geführt werden sowie mit der Neugier auf die jeweils andere Perspektive und Kompetenz.

Aufgabe und Ziel der Selbsthilfegruppen ebenso wie allen verbandlichen Engagements ist und bleibt die Stabilisierung einer persönlichen abstinent-cleanen Lebensführung sowie das Erreichen der Menschen, die noch in der Suchterkrankung und Co-Abhängigkeit gefangen sind. Wer diesen Zielen verpflichtet ist, wird auch in schwierigen Situationen immer Zugang finden zum Herzen der Selbsthilfe und kann ihrer Loyalität gewiss sein.

Rainer Breuninger
Schriftführer der BWAG
Geschäftsführer der Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe, Landesverband Württemberg e. V., Hindenburgstr. 19 a, 89150 Laichingen, Tel. 07333-3778
info@freundeskreise-sucht-wuerttemberg.de

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